Das Auge des Odin
Eine Legende für Anni
Lange vor unserer Zeit lenkten mächtige Götter die Geschicke der Menschen im Land der Jüten. Die Götter liebten die Gewalt und fanden ein großes Vergnügen darin, die Menschen im Krieg gegeneinander zu hetzen. Die Schwachen wurden von ihnen verachtet, die Tapferen aber reich belohnt. Als mächtigster der Götter galt Odin. Um Weisheit zu erlangen, hatte er ein Auge in den Brunnen des Riesen Mimir geworfen und dafür aus seinen Wassern trinken dürfen. Aber auch die erlangte Weisheit rettete die alten Götter nicht vor ihrem Schicksal und so drohte ihre Macht zu vergehen und sie selbst in Vergessenheit zu geraten.
Das Auge des Odin aber hatte über unendliche Zeiten im Brunnen des Mimir gelegen. Die Wasser der Weisheit hatten es über die Zeit in einen rot funkelnden Augstein verwandelt. Man sagt, wer diesen Stein in seinen Besitz brächte, der könne in alle Welten und Zeiten schauen.
So schickte Odin einen seiner Raben aus, um den Augstein aus dem Brunnen zu holen. Von dem Augstein erhoffte er sich Rat, wie er den Untergang der Götter abwenden könne. Der Rabe fand auch den Brunnen und fischte den leuchtenden Stein aus dem Wasser. Auf dem Rückflug aber verlor er den Stein ob seines großen Gewichtes und musste erfolglos zu Odin zurückkehren. Die Macht der Götter schwand und heute ist die Erinnerung an sie nur noch ein schwacher Glanz im Vergleich zu ihrer früheren Macht.
Der Stein aber war in die Welt der Menschen gefallen. Und da er von starker innerer Kraft erfüllt war, wurde er schon bald von einem Menschen gefunden. Der Gebrauch des Steines mehrte die Macht und den Reichtum seines Besitzers aufs Unermessliche. Er gab dem, der ihn besaß die Fähigkeit, ganze Menschengeschlechter zu lenken und ließ große, blühende Reiche entstehen. Der Stein wurde in Gold gefasst und an Helmen und Kronen getragen. Da er aber aus der Welt der alten Götter stammte, war in ihm auch der Hang zu Krieg und Verderben eingeschlossen. Kein Mensch konnte diese Kräfte bändigen. Und so verfielen die Reiche schnell und gingen in Verwüstung und Verderben unter. Der Stein hingegen fand immer einen neuen Besitzer. Kaum war er auf einem grausigen Schlachtfeld dem glücklosen Besitzer entfallen, wurde er schon aufgehoben und der Kreislauf aus Aufstieg und Niedergang wiederholte sich.
Dem Volk der Jüten und seinen Nachbarn brachte der Stein kein Glück. Nach Jahrhunderten des Krieges waren die Bewohner des Schlachtens müde und das Land war ausgeblutet und verheert. Die Menschen machten sich auf nach Süden, um dem ewigen Krieg zu entrinnen. Der Stein aber wurde von zwei heiligen Männern, denen große innere Stärke nachgesagt wurde, in einem tiefen Moor versenkt. Kein Sterblicher sollte je wieder von ihm Gebrauch machen. Als die Männer jedoch am Rande des Moores standen, erwies sich ihre Widerstandskraft als zu gering. Sie gerieten in Streit, ob der Stein nicht doch in ihrem Besitz verbleiben sollte. So kam es, daß der eine den anderen erschlug um an den Stein zu gelangen. Der Erschlagene aber stürzte ins Moor und versank mit dem Stein in den Händen in der Tiefe. Der andere aber erschrak ob seiner Tat und flüchtete aus dem Moor. Dem Ort des Verbrechens gab man den Namen Wees, was in der alten Sprache Sumpf bedeutete.
Heute ist die ganze Gegend dicht bewohnt. Ein kleiner Ort vor den Türen Flensburgs trägt immer noch den Namen Wees. Die Flächen der Gemarkung dienen der Landwirtschaft. Nur ein kleines Waldstück ist aus damaliger Zeit übrig. Am Rande des Waldes liegt unberührt ein Moor. Selten verirren sich Menschen hierher. In den Morgenstunden hat der Ort hat etwas Zauberhaftes. Nebel tanzen über die Oberfläche des kleines Sees in seiner Mitte. Wer hineinschaut, könnte vielleicht den rötlichen Schimmer in der Tiefe entdecken.
Quelle: Die Legende ist so wahr, daß ich sie mir ausdenken mußte